Tomi Ungerer
Jean-Thomas „Tomi“ Ungerer (* 28. November 1931 in Straßburg; † 9. Februar 2019 in Cork, Irland) war ein französischer Grafiker, Schriftsteller und Illustrator von Bilderbüchern für Kinder und Erwachsene. Ungerer verstand sich als Elsässer und überzeugter Europäer, blieb jedoch ein Skeptiker gegenüber der europäischen Bürokratie. Von 1976 an lebte er abwechselnd im Südwesten Irlands und in seiner Heimatstadt Straßburg. weiterlesen…Tomi Ungerer wurde 1931 nach zwei Schwestern und einem Bruder als jüngstes Kind der Familie geboren. Er entstammte einer alteingesessenen, protestantischen elsässischen Familie.[4] Sein Vater Théodore Ungerer und Großvater Alfred Ungerer arbeiteten als Uhrmacher und Turmuhrenfabrikanten. Mit zwölf Jahren schrieb er in sein Schulheft: „Ich werde der Wanderer sein.“ Seine frühen Jahre wurden tatsächlich zu ruhelosen Lehr- und Wanderjahren, er fuhr auf dem Fahrrad durch Frankreich, später quer durch Europa. Die Reisen führten ihn auch zu einem Méhari-Kamelreiter-Regiment in Algerien bei der französischen Fremdenlegion, wo unter Anleitung von Ungerer Nazilieder beim Marschieren gesungen wurden. Wegen einer Rippenfellentzündung lag er sechs Monate im Lazarett, dabei lernte er die arabische Musik kennen. Nach seiner Ausmusterung führten ihn seine Wanderungen zu Fuß und per Anhalter bis nach Nordnorwegen bei Murmansk ins sowjetische Grenzgebiet, danach war er auf kleinen Frachtern als Matrose im Nordatlantik unterwegs. Im Oktober 1953 schrieb er sich für ein paar Monate in der Straßburger École Municipale des Arts Décoratifs ein.
1956 wanderte Ungerer mit 60 Dollar und einigen Zeichnungen in der Tasche in die USA, nach New York, aus. Unterernährt und mit einer verschleppten Rippenfellentzündung wurde er von der Notfallstation eines Krankenhauses abgewiesen, wo man ihm eine Behandlung verweigerte, da er nicht genug Geld hatte. Anderntags sprach er bei der Kinderbuchlektorin von Harper, Ursula Nordström, vor, um einen Vertrag für sein Kinderbuch zu erhalten. Nordström lehnte zunächst bedauernd ab, nach seinem Zusammenbruch gewährte sie ihm schließlich einen Vorschuss von 500 Dollar Bargeld. 1957 gewann er seinen ersten Preis für sein erstes illustriertes Kinderbuch, The Mellops go flying, eine Geschichte mit kleinen Schweinchen. Programmatisch für sein Lebenswerk vereinten sich in den Figuren der kleinen Schweinchen kindliche Unschuld und in symbolischer Hinsicht das Laster. Das Buch wurde zum Bestseller. Im selben Jahr knüpfte er den Kontakt mit seinem späteren Hausverlag, dem Zürcher Diogenes Verlag. Nun arbeitete er gleichzeitig als Zeichner, Maler, Illustrator, Kinderbuchautor und Werbegrafiker.
1956 heiratete er in den USA Nancy White, mit der er seit seiner Ankunft zusammenlebte. Da sie die Tochter des Sheriffs von Amarillo war, konnte sie ihm bei der schnellen Bewilligung der Greencard helfen. 1959 heiratete er die Herausgeberin und Journalistin Miriam Strandquest, mit der er die Tochter Phoebe (* 24. Mai 1961[21]) hatte.
Mitte der 1960er-Jahre schockierte Ungerer mit den Cartoonbänden Geheimes Skizzenbuch und The Party, in denen er auf drastisch-satirische Weise die New Yorker Schickeria aufs Korn nahm. Ungerers Kreativität kannte nun auch keine Genregrenzen mehr, und er wandte gern alle Zeichentechniken an. 1969 erschien Fornicon, das später in England verboten wurde. Die Karikaturen stellten Potenzwahn, Sexismus und Gier bloß. Seine Drastik und Radikalität blieben immer die Mittel eines Moralisten. Die Ironie der dargestellten sexuellen Praktiken basierte auf dem Prinzip der Übertreibung und dem Übermaß einer noch nie gesehenen Technisierung und Mechanisierung sexueller Wünsche. Ungerer war daher nicht nur mit der Prüderie in den USA und England konfrontiert, sondern später auch mit der Rachsucht der Ostküsten-High-Society.
Daneben zeichnete er auch Film-Plakate u. a. für die Star-Regisseure Stanley Kubrick (Dr. Seltsam)[22] und Otto Preminger. In seiner New Yorker Zeit teilte er sich mit dem Schriftsteller Philip Roth ein Ferienhaus auf Long Island. Zu seinen weiteren literarischen Freunden zählten Tom Wolfe und Saul Bellow. Trotz einer liberalen Aufbruchsstimmung in den USA stießen seine satirischen und erotomanischen Zeichnungen dort auf immer mehr Kritik. Ungerer wurde vom FBI beobachtet und verhört, seine Kinderbücher wurden verboten. Kein Kuss für Mutter erhielt in den USA den Preis für das schlimmste Kinderbuch, da darin u. a. Toby mit seinem Freund Zigarre raucht und beim Frühstück mit seinen Eltern eine Flasche Schnaps auf dem Tisch steht. Mit Bildern wie diesen hielt er sich zugute, einen neuen Realismus in die Kinderbuchliteratur eingeführt zu haben: „Keiner hat die Kinderbuchtabus so zerschmettert wie ich.“ In seinen Kinderbüchern spielen eher negativ bewertete Tiere wie Schlangen, Esel, Schweine, Tintenfische und Fledermäuse eine positive Hauptrolle, um damit Vorurteile gegenüber den Tieren und auch im Allgemeinen abzubauen.
Ungerer verließ New York City 1971 nach 14 Jahren und suchte mit seiner dritten Frau, der US-Amerikanerin Yvonne Wright, auf einer Farm im kanadischen Neuschottland ländliche Ruhe und Inspiration. Dort wollten die vorherigen Großstädter autark leben, indem sie ihr eigenes Gemüse anbauten, Viehzucht betrieben und mit größter Überwindung und Willenskraft das Schlachten erlernten. Nach der jahrelangen Arbeit an den Illustrationen für die Volksliedersammlung Das Große Liederbuch (1975) trieb ihn das Heimweh wieder zurück nach Europa.
Seit 1976 lebte Ungerer mit seiner Frau Yvonne Wright, seiner Tochter Aria (geb. 1976) und seinen beiden Söhnen Lukas (geb. 1978) und Pascal (geb. 1980) abwechselnd in Straßburg und auf einer 160 Hektar großen Farm nahe der Stadt Cork in Irlands Südwestprovinz Munster. Dort widmete er sich der Schaf- und Rinderzucht. 1985 wohnte er für einige Monate in Hamburg bei der damals als Domina tätigen Domenica Niehoff, um sich Anregungen für einen Bild- und Interviewband über BDSM-Praktiken zu holen (Die Schutzengel der Hölle, 1986).
Während er in den USA noch an vielen Werbeaufträgen für große Unternehmen wie Pepsi-Cola, Calvert Company, TWA und die New York Times arbeitete, beschränkte er sich in Europa weitgehend auf die Angebote, die ihm die Kölner Agentur von Robert Pütz vermittelte. So war er in den 1970er-Jahren Werbezeichner für den nordfranzösischen Lebensmittelproduzenten Bonduelle. Zu Beginn der 1980er-Jahre entwarf Ungerer für den deutschen Computerhersteller Nixdorf ein neues Bild in der Werbung und gestaltete Wandkalender mit historischen Schreib- und Rechenmaschinen.
Ab den 1970er-Jahren engagierte er sich für die Deutsch-Französische Freundschaft und erhielt dafür 1993 das Bundesverdienstkreuz. Im Bundestagswahlkampf 1972 schuf er für die „Willy wählen“-Kampagne der SPD die selbstironische Anzeigenserie „In Sachen SPD – Wir gegen uns!“ und trug so zur Wiederwahl ihres Kanzlerkandidaten Willy Brandt bei. Die SPD errang dabei mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte und stellte zum ersten Mal die stärkste Fraktion im Bundestag. In seinen letzten 40 Jahren brachte er rund 40.000 Zeichnungen zu Papier und veröffentlichte über 140 Bücher. Ab 1979 waren seine Werke in etwa 100 Ausstellungen zu sehen. Seine Bücher wurden in über 28 Sprachen übersetzt.
Mitte der 2000er-Jahre überwand Ungerer eine jahrelang andauernde, schwere gesundheitliche Krise mit drei Herzinfarkten, einer Krebserkrankung und fand danach erneut zu seiner alten Produktivität zurück. Nach dem Verlust eines Augenlichts musste er wegen des fehlenden räumlichen Sehens das Zeichnen erneut erlernen. Er starb in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2019 im Alter von 87 Jahren im Haus seiner Tochter Aria im irischen Cork. Ungerer entschlief friedlich mit einem Buch von Nabokov-Briefen neben sich. Sein letzter Wille war es, dass seine Asche zwischen Straßburg und Irland aufgeteilt wird. Bei einer Trauerfeier im Straßburger Münster u. a. mit Erzbischof Luc Ravel und Chansonnier Roger Siffer nahmen rund 1.000 Menschen von ihm Abschied.